Geschreibsel

 

Warum?

Mühsam setzt Du einen kleinen Schritt vor den nächsten kleinen Schritt. Vorsichtig setzt Du jeden Fuss auf, prüfst sorgfältig den Untergrund und verlagerst das Gewicht langsam und dosiert auf diesen Fuss. Trotzdem brichst Du immer wieder mal durch die harte Oberfläche und versinkst bis zum Oberschenkel im weichen Untergrund. Ausrutschen darfst Du nicht. Jeder Fehler hätte unweigerlich fatale Folgen.

Wenn Du von Zeit zu Zeit keuchend stehen bleibst, um wieder zu Atem zu kommen, schweift Dein Blick unweigerlich in die Tiefe hinter Dir und Du denkst mit Schrecken an den Rückweg. Das steile Firnfeld hat es in sich! Den Gedanken bewusst verdrängend drehst Du Dich wieder um und nimmst den Maschinenrythmus wieder auf:
Schritt - Schnaufen - Schritt - Schnaufen - Schritt - Schnaufen.

Während sich Dein Unterbewusstsein damit beschäftigt, weiterhin einen sauberen Schritt nach dem anderen zu machen, schweifen Deine Gedanken ab und Du fragst Dich: 'Warum?'

Warum stehst Du am Wochenende so früh auf, wenn Du eigentlich mal ausschlafen könntest?
Warum strengst Du Dich so an, dass Du am nächsten Tag bestimmt entweder einen Muskelkater oder ein geschwollenes Knie hast?
Warum steigst Du irgendwo hoch, wenn es dort oben doch Nichts hat, was nicht woanders einfacher zu kriegen wäre?
Warum begibst Du Dich in ein Gelände, wo ein einziger falscher Schritt fatale Folgen haben könnte?

Beim Weitersteigen durch das steile Firnfeld rotieren diese Fragen durch Deinen Kopf. Der monotone Rhythmus lässt Deinen Gedanken viel Zeit. Nein, Angst hast Du nicht. Du bist sicher, alles so weit wie dies möglich ist, richtig zu machen. Aber die Fragen bleiben. Warum?

Keuchend kletterst Du die letzten paar Meter über Eis und Fels zum Gipfel. Endlich oben! Außer Dir und Deinem Partner kam niemand auf die Idee, unter diesen Bedingungen hier hoch zu steigen. Ihr seid völlig allein.

Mit allen Sinnen nimmst Du die Umgebung in Dich auf. Du trinkst den weiten Himmel, die fernen weissen Gipfel, riechst den Schnee, fühlst die Luft, atmest Berge. Dein Geist wird weit beim Versuch all dies in Dich aufzunehmen. Immer wieder auf's Neue staunend lässt Du Deinen Blick über das grandiose Panorama schweifen.

Und da ist die Antwort: Deswegen!

Weil es das eben nicht woanders einfacher gibt.
Weil das Hochgefühl umso größer ist, je schwieriger es war, den Gipfel zu erreichen.
Weil der Erfolg so sichtbar ist, beim Blick in die 1500 Meter tieferliegenden Täler.
Weil das Erlebnis umso intensiver ist, je weiter das Bekannte, Vertraute und die Menschen weg sind.

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