Geschreibsel

 

Gefrorene Zeit

Es ist ein typischer, grauer, kalter, windiger, irischer Novembertag, als wir Dublin verlassen. Wir haben uns gut amüsiert und machen uns auf den Weg 'nach Hause' nach Belfast. Wir haben noch einen kleinen Abstecher geplant, um uns eine weitere Sehenswürdigkeit einzuverleiben.

Kurz vor der Grenze biegen wir von der häßlichen Hauptstraße ab und begeben uns in's Hinterland. Trotz des grauen, bedeckten Himmels und des leichten Nieselregens leuchten die Felder und Wiesen in einem satten Smaragdgrün, das von einem Netz niedriger Mauern aus unregelmäßigen hellen Steinen durchzogen wird. Die Straße windet sich immer schmaler werdend durch die grüne Landschaft.

Kurz von unserem Ziel kommen wir an einem kitschigen, aber irgendwie niedlichen, winzigen Häuschen vorbei, in dem lokale Kleinkunst verkauft wird. Das pinkfarbene Häuschen hebt sich mit den blauen Fensterläden und der leuchtend gelben Tür gut vom grünen Hintergrund der Wiesen ab.

Kurz danach können wir unser Ziel sehen. Der kleine Hügel da vor uns mit dem weißen Rand muß es sein. Auf dem winzigen Parkplatz stehen drei Autos - viel scheint um diese Jahreszeit nicht los zu sein. Wir betrachten unser Ziel genauer. Ein kleiner Hügel, um den sich im oberen Drittel ein Mauerabsatz aus weißen Steinen zieht. Von dem kleinen Ticketschalter am Ende des Parkplatzes zieht sich ein schmaler Weg bis zu einem kleinen Einlaß in der weißen Mauer.

Gerade als wir an den Ticketschalter treten, kommt eine kleine Gruppe mit einem Führer den schmalen Weg herunter. Wir haben Glück, die nächste Führung fängt in 10 Minuten an. Als es dann soweit ist, besteht unsere Gruppe nur aus uns 5 Touristen und dem Führer.

Während wir den kurzen Weg zum Eingang zurücklegen, nudelt der Führer seinen Sermon über die Fakten der Sehenswürdigkeit runter: Höhe, Durchmesser, Masse und wo die Steine herkommen. Am Eingang bleibt er stehen und weist auf das Ornament am 'Türstock' hin - die dreifache Spirale. Die drei Steinplatten, aus denen der niedrige Eingang gemacht wurde, sind wenigstens 1 1/2 Meter hoch und fast einen halben Meter dick.

Bevor wir reingehen, gucke ich mich noch mal um. Sanft gewellte smaragdgrüne Hügel, die von einem Netzwrk niedriger Mauern durchzogen sind, unter einem wilden grauen Himmel. Hier und da kleine Ansammlungen von Büschen oder Bäumen. Kein Hindernis beeinträchtigt die Sicht.

Dann ducke ich mich und gehe den anderen nach in das Innere des Hügels. Der Gang ist schmal und von Platten in ähnlicher Größe wie die am Eingang gebildet. Er führt leicht nach oben und ist in unregelmäßigen Abständen von funzeligen nackten Glühbirnen beleuchtet. Teilweise ist der Gang so schmal, daß ich mich seitlich zwischen den Platten durchwinden muß. An einer Stelle muß ich sogar ein wenig in die Knie gehen, weil die Decke so tief ist. Sanft lasse ich meine Finger den kühlen Stein entlang schleifen. Soooo alt schon!

Die anderen erwarten mich mit dem Führer in einer kleinen Kammer, die von zwei Strahlern notdürftig ausgeleuchtet wird. Während der Führer die Kammer und ihre Funktion erläutert, sehe ich mich um. Die Wände der Kammer werden wieder von großen Steinplatten gebildet. Nach oben wurden große Steine immer weiter nach innen geschichtet, bis sich etwa 4 Meter über uns ein spitzesr Raum gebildet hat.

Die Kammer hat in etwa die Form eines Vierecks. Drei große Platten bilden die Wände. Auch sie sind mit Spiralen verziert. Der Führer scheint Spaß an seinem Vortag für uns zu haben und erzählt ausführlich, wie das gewesen sein könnte, damals, vor 5000 Jahren, als hier Leute wohnten, von denen kaum mehr bekannt ist, als daß sie da waren.

Alles was noch übrig ist, ist dieses monumentale Bauwerk. Newgrange - Tonnen von Gestein mit einer hell leuchtenden Außenmauer aus Steinen, die die Steinzeitmenschen von Bergen geholt haben, die gut 200 Kilometer weg sind. Es muß ein religöses Bauwerk gewesen sein, sonst hätten sich diese Menschen wohl nicht soviel Mühe gemacht.

Direkt über dem Gang, durch den wir gekommen sind, gibt es einen zweiten Gang, deutlich niedriger als der untere Gang, erzählt der Führer. Der Eingang zeige genau nach Osten, führt er weiter aus. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufgeht, scheint sie in diesen Gang entlang hoch. Je tiefer die Sonne steht, desto näher kommt der Sonnenstrahl der inneren Kammer. Klick!

Wir stehen im Dunkeln. Im ersten Augenblick ist die Dunkelheit so dicht, daß sie sich fast körperlich spürbar auf einen legt. Doch auch nach dem ersten Atemzug in der plötzlich zum Schneiden dicken Luft ist das Dunkel so intensiv, daß es wie der Druck des gesamten Hügel auf uns lastet. Der Blick krallt sich an dem schwachen Lichtschimmer fest, der es durch den gewundenen Gang vom Eingang bis fast zur Kammer schafft.

Jahrelange Sekunden später, in denen wir kaum zu atmen wagen, ertönt das leise Flüstern unseres Führers. "So müssen sich unsere Vorfahren gefühlt haben, als sie sich am kürzesten Tag des Jahres hier drinnen versammelten und auf die Sonne warteten." Klick!

Und die Sonne geht auf. Ein schmaler Strahl goldenen Lichts scheint durch den Gang bis genau in die Mitte der Kammer. Die Last der Dunkelheit hebt sich federleicht von unseren Schultern.

Ich kann nicht fassen, wie erleichternd dieses Licht für mich ist, obwohl ich ein sogenannter moderner Mensch bin. Wie muß es für die Erbauer dieses Bauwerks gewesen sein, wenn sie sich am kürzesten Tag des Jahres in diese Kammer begaben und auf die Bestätigung hofften daß die Tage wieder länger werden würden.

Als wir wieder hinaus gehen, bleibe ich ein wenig zurück und sehe mich noch mal um. Andächtig fahre ich eines der Ornamente nach. Diese Kammer ist einer der beeindruckendsten Orte, an denen ich bisher war. Irgendwann einmal möchte ich hier am 21. Dezember den Sonnenaufgang erleben!

Die Warteliste ist länger als 20 Jahre! Was es kostet, habe ich danach nicht mehr gefragt.

www.obadoba.de ~~~ (c) 1997-2004 Andrea Kullak     GoWeb